Die Herzensbildung. Über die Entwicklung der Persönlichkeit

Das Gefühlsleben bildet sich besonders während der Kindheit aus. Zu lieben lernt man schon als Kleinkind; und die Eltern sind dabei die wichtigsten Lehrer, wie das in diesem Artikel über die Familie dargestellt wird.

Die Erziehung ist ein Recht und eine Pflicht der Eltern; sie führt in gewissem Sinn die Zeugung fort. Man kann also sagen, das Kind ist, insofern es eine Person ist, das vorrangige Ziel, das die auf Gott ausgerichtete Liebe der Eltern anstrebt. Die Erziehung scheint wie eine Fortsetzung der Liebe zu sein, die zum Leben des Kindes geführt hat. Dort versuchen die Eltern ihm die Grundvoraussetzungen mitzugeben, um ein glückliches Leben führen zu können und fähig zu werden, seinen Platz in der Welt mit menschlichem und übernatürlichem Schwung einzunehmen.

Die christlichen Eltern sehen in jedem Kind einen Vertrauenserweis Gottes. Sie gut zu erziehen ist, wie der heilige Josefmaria sagte, das beste Geschäft; ein Unternehmen, das mit der Empfängnis beginnt und bei der Erziehung der Gefühle und der Gemütsregungen die ersten Schritte setzt. Wenn sich die Eltern lieben und im Kind den Höhepunkt ihrer Hingabe sehen, werden sie es in Liebe und zur Liebe erziehen. Vor allem den Eltern kommt es zu, die Gefühle der Kinder zu lenken, ihre Gemütsregungen auszugleichen, und zu erreichen, dass aus ihnen ausgeglichene Menschen werden.

Die Gefühle prägen sich besonders in der Kindheit aus. Später, in der Pubertät, können Gemütskrisen auftreten, und die Eltern müssen mithelfen, damit sie die Kinder lösen können. Wenn sie von Kindheit an gelassen und beharrlich erzogen worden sind, werden sie mit diesen schwierigen Zeiten leichter zurechtkommen. Außerdem erleichtert ein ausgeglichenes Gemüt die Zunahme der Denk- und Willensgewohnheiten; ohne ein ausgeglichenes Gemütsleben ist es schwieriger die geistigen Fähigkeiten zu entfalten.

Um eine gute Grundlage für das Gefühls- und Gemütsleben zu schaffen, ist es verständlicher Weise unbedingt erforderlich, dass sich die Eltern selber bemühen, ihre eigenen Gefühle immer besser in den Griff zu bekommen. Wie gelingt das? Indem sie sich um ein besseres Familienleben bemühen, ihre Beziehung gut pflegen, ihre gegenseitige Liebe - auf angemessene Weise - auch vor den Kindern zeigen. Allerdings neigt man manchmal dazu zu denken, dass die Gemütsregungen und die Gefühle über den familiären Erziehungsbereich hinausgehen. Vielleicht ist das so, weil sie scheinbar etwas sind, das passiert, das wir nicht kontrollieren und nicht ändern können. Manche gehen sogar so weit, sie von einem negativen Standpunkt aus zu sehen, weil die Sünde die Leidenschaften in Unordnung gebracht hat und sie es schwer machen, vernüftig zu handeln.

WENN SICH DIE PERSÖNLICHKEIT ZU ENTWICKELN BEGINNT

Diese passive oder sogar negative Haltung, die es in vielen Religionen und sittlichen Überlieferungen gibt, hebt sich deutlich von den Worten ab, die Gott an den Propheten Ezechiel gerichtet hat: Ich (...) gebe ihnen ein Herz von Fleisch, damit sie nach meinen Gesetzen leben und auf meine Rechtsvorschriften achten und sie erfüllen i. Ein Herz aus Fleisch zu haben, ein Herz, das zur Liebe fähig ist, wird als etwas dargestellt, das geschaffen wurde, um den göttlichen Willen zu erfüllen. Die ungeordneten Leidenschaften sind daher nicht so sehr eine Frucht des überschwänglichen Herzens, sondern die Folge davon, ein böses Herz zu haben, das geheilt werden muss. Christus hat darauf so hingewiesen: Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil in seinem Herzen Gutes ist; und ein böser Mensch bringt Böses hervor, weil in seinem Herzen Böses ist. Wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund ii. Aus dem Herzen kommen die Dinge, die den Menschen unrein machen iii, aber auch alles Gute.

Der Mensch braucht die Gemütserregungen, weil sie ein wirksamer Antrieb zum Handeln sind. Jeder neigt dem zu, was ihm gefällt, und die Erziehung besteht darin zu helfen, dass es mit dem persönlichen Wohl übereinstimmt. Dabei sollte man ein nobles und leidenschaftliches Verhalten einnehmen: Was ist natürlicher, als die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind? Und wie sehr drängt diese Liebe dazu mit Freude viele Opfer zu bringen! Und wenn es aus irgendeinem Grund etwas Unangenehmes gibt, um wie viel leichter fällt es dann, ihm aus dem Weg zu gehen! Wenn man in einem bestimmten Augenblick die “Hässlichkeit” einer schlechten Handlung sieht, kann das ein viel stärkerer Antrieb sein, sie zu unterlassen, als tausend Begründungen.

Klarerweise darf das nicht mit einer gefühlsbetonten Vorstellung von der Sittlichkeit verwechselt werden. Es geht nicht darum, dass sich das sittliche Leben und der Umgang mit Gott auf die Gefühle stützen sollen. Das Vorbild ist, wie immer, Christus: an Ihm, dem vollkommenen Menschen, sehen wir, wie die Gefühle und Leidenschaften bei seinem rechtschaffenen Handeln mitwirken. Jesus wird im Anblick des Todes von Rührung ergriffen und wirkt Wunder; in Gethsemani sehen wir Ihn bei einem inständigen Gebet, das heftige Gemütserregungen hervorruft; er wird sogar vom – hier guten - leidenschaftlichen Zorn ergriffen, als er die Würde des Tempels wieder herstellt iv. Wenn jemand wirklich etwas will, ist es ganz normal, dass ihn die Leidenschaft packt. Hingegen ist es unangenehm zu sehen, wie jemand seine Aufgaben nur widerwillig erfüllt, ohne sein Herz hineinzulegen. Das bedeutet aber nicht, dass man sich von den Gefühlen mitreißen lassen soll. Wenn schon, dann setzt man bei dem, was man tut, zuerst den Kopf ein, und das Gefühl verleiht der Vernunft die Herzlichkeit, damit das Gute angenehm ist. Der Verstand wiederum gibt den Gefühlen Licht, Harmonie und Einheit.

DIE UMKEHR DES HERZENS ERLEICHTERN

Im Gemütsleben des Menschen haben die Leidenschaften den Zweck, das freie Handeln zu erleichtern und nicht es zu verschleiern oder zu erschweren. «Die sittliche Vollkommenheit besteht darin, dass der Mensch nicht nur durch seinen Willen zum Guten bewogen wird, sondern auch durch das sinnliche Strebevermögen, gemäß dem Psalmwort: “Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu, ihm, dem lebendigen Gott” (Ps 84,3)» v. Deshalb ist es nicht gut, seine Leidenschaften unterdrücken oder “kontrollieren” zu wollen, als wären sie etwas Schlechtes oder Abzulehnendes. Auch wenn die Erbsünde sie in Unordnung gebracht hat, hat sie ihnen weder ihre Natur genommen noch sie völlig und unheilbar zerstört. Die Gemütsregungen lassen sich positiv ausrichten und auf die wahren Güter hinlenken, auf die Gottes- und Nächstenliebe. Die Erzieher, allen voran die Eltern, müssen deshalb versuchen, dass ihr Schützling soweit wie möglich das Gute gern tut.

Die Erziehung der Gemütsregungen verlangt vor allem, es den Kindern leicht zu machen, dass sie sich selbst kennen lernen und dass sie das, was ihre Empfindungen geweckt hat, in einer den Umständen entsprechenden Weise wahrnehmen. Es geht darum ihnen zu helfen, diese Gemütsregung zu ertragen, über sie hinwegzugehen, und dann die Ursache, die sie hervorgerufen hat, richtig zu sehen. Vielleicht wird diese Überlegung dazu führen zu versuchen, diese Sache positiv anzugehen, um sie zu ändern. Bei anderen Anlässen – dem Tod eines geliebten Menschen, einer schweren Krankheit – kann man die Tatsache nicht ändern; das wird der geeignete Augenblick sein ihnen beizubringen, dass sie die Ereignisse so annehmen sollen, als wären sie ihnen von der Hand Gottes, der uns liebt wie ein Vater sein Kind, überreicht worden. Andere Male können der Vater oder die Mutter wegen einer Verärgerung, einer Angstreaktion oder Antipathie mit den Kindern sprechen und ihnen so gut wie möglich helfen, den Grund für diese Gemütserregung zu erkennen, damit sie mit ihr zurecht kommen können. So werden sie sich selbst besser kennenlernen und eher fähig sein, die Gefühlswelt an ihren Platz zu stellen.

Außerdem können die Erzieher die Kinder oder Jugendlichen darauf vorbereiten, damit sie eine bestimmte Gemütsregung - bei sich selbst und bei den anderen – erkennen können. Eine gute Maßnahme ist, Gelegenheiten zu schaffen – wie zum Beispiel die Geschichten der Literatur oder der Filme -, mit deren Hilfe es möglich ist zu lernen, wie man auf die Gemütserregungen, die beim Prägen der Gefühlswelt des Menschen mitwirken, entsprechend eingeht. Eine Erzählung wirft für den, der sie liest, hört oder sieht, Fragen auf und lenkt seine Gefühle in eine bestimmte Richtung, und gewöhnt ihn an eine bestimmte Weise, die Wirklichkeit zu betrachten. Weil die Kinder, wenn sie noch sehr klein sind, leichter beeinflusst werden, können abhängig vom Alter eine Abenteuergeschichte oder ein spannendes Buch, oder auch eine romantische Erzählung dazu beitragen, die entsprechenden Gefühle in Situationen, bei denen das berechtigt ist, zu festigen: die Entrüstung über eine Ungerechtigkeit, das Mitleid mit Bedürftigen, die Bewunderung der Opferbereitschaft, die Begeisterung für das Schöne. Es wird auch dazu beitragen den Wunsch zu nähren, diese Gefühle zu haben, weil sie etwas Wunderbares und Ursprung der Vollkommenheit und der Hochherzigkeit sind.

Wird das Interesse an guten Geschichten gut gelenkt, bildet es allmählich auch den künstlerischen Geschmack aus und die Fähigkeit diejenigen zu erkennen, die Niveau haben. Das stärkt die Urteilsfähigkeit und hilft auch sehr, ein schlechtes menschliches Benehmen zu vermeiden, das manchmal zu Geschmacklosigkeiten und zur nachlässigen Schamhaftigkeit führt. Vor allem in den Gesellschaften der so genannten Ersten Welt hat sich ganz allgemein eine Auffassung von der “Spontaneität” und “Natürlichkeit” verbreitet, die oft alles andere als würdevoll ist. Wer sich an diese Art des Milieus gewöhnt, wird - unabhängig vom Alter – letzten Endes sein eigenes Feingefühl schwächen und seine Gemütsregungen auf eine tierische oder schamlose Art ausleben. Die Eltern müssen ihren Kindern eine Haltung der Abscheu vor den unanständigen Dingen beibringen, auch wenn sie dabei nicht direkt über sinnliche Dinge sprechen.

Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass die Erziehung des Gefühlslebens nicht das gleiche ist wie die Sexualerziehung. Sie ist nur ein Teil der Welt der Gefühle. Wenn es jedoch gelungen ist, in der Familie eine vertrauensvolle Stimmung zu schaffen, wird es den Eltern sicher leichter fallen, mit den Kindern über die Großartigkeit und den Sinn der menschlichen Liebe zu sprechen und ihnen von klein auf – durch die Erziehung des Gefühlslebens und das Beibringen der Tugenden – nach und nach jene Hilfen zu geben, um diesen Bereich des Lebens richtig auszurichten.

EIN HERZ NACH DEM HERZEN CHRISTI

Bei der Erziehung der Gefühle geht es letzten Endes darum, in den Kindern das Herz weit zu machen, damit es fähig ist, Gott und die Menschen wirklich zu lieben; damit sie die Sorgen unserer Mitmenschen teilen, verzeihen und verstehen können: sich mit Jesus Christus für alle Seelen aufopfern vi. Eine gelassene und anspruchsvolle Atmosphäre trägt wie durch Osmose dazu bei, mit der vielschichtigen Gefühlswelt vertraut zu werden und sie beständig zu machen. Wenn die Kinder sehen, dass sie vorbehaltlos geliebt werden; wenn sie mitbekommen, dass sich ihre Eltern über ihre gut verrichtete Arbeit freuen und ihre Fehler kein Anlass sind, ihnen das Vertrauen zu entziehen; wenn es ihnen leicht gemacht wird ehrlich zu sein und die Gefühle zu zeigen ..., wachsen sie in einer dauernden inneren Stimmung der Ordnung und Gelassenheit auf, in der die positiven Gefühle vorherrschen (Verständnis, Freude, Vertrauen), wohingegen das, was den Frieden raubt (Ärger, Wutausbrüche, Neid), als eine Einladung verstanden wird, etwas Bestimmtes zu tun: etwa um Verzeihung zu bitten, zu entschuldigen, oder eine liebevolle Geste zu zeigen.

Was fehlt sind Herzen, die jene Dinge lieben, die es wirklich verdienen; die vor allem Gott lieben vii. Nichts trägt so sehr zur Reifung des Gemütslebens bei wie das Herz Gott zu überlassen und seinen Willen zu erfüllen. Deshalb muss man, wie der heilige Josefmaria sagt, das Herz mit sieben Riegeln sichern, je einen für jede Hauptsündeviii:weil es in allen Herzen Gefühlsregungen gibt, die nur dazu da sind, um sie Gott zu hinzugeben, und das Gewissen den Frieden verliert, wenn es diese anderen Dingen zugewendet. Ein tatsächlich reines Herz achtet darauf, die Tore all dem zu verschließen, was dazu führen könnte, den Geschöpfen oder dem eigenen Ich das zu geben, was Christus gehört. Sie führt dazu “abzusichern”, dass die Fähigkeit des Menschen zur Liebe und zum Gern haben richtig ausgerichtet und nicht zerspalten ist. Das Bild von den sieben Riegeln geht daher über die Mäßigung der Begierde oder die übertriebene Sorge um die materiellen Güter hinaus. Es erinnert uns an die Notwendigkeit, gegen die Eitelkeit anzukämpfen, die Phantasie im Zaum zu halten, das Gedächtnis rein zu halten, die Esslust zu bremsen, jenen gegenüber freundlich zu sein, die uns stören ... Das Paradoxe daran ist: wenn man dem Herz solche “Fesseln” anlegt, dann nimmt seine Freiheit zu, mit all seinen Kräften beständig zu lieben.

Die heilige Menschheit des Herrn ist der Schmelztiegel, in dem sich das Herz und seine Gefühlsregungen am besten läutern lassen. Die Eltern sollen den Kindern von klein auf beibringen, sich mit dem gleichen Herzen und den gleichen Liebesbezeugungen an Jesus und seine Mutter zu wenden, mit denen sie auf der Erde ihre Eltern lieben. Das wird ihnen entsprechend ihrem Alter helfen, die tatsächliche Größe ihrer Gemütsregungen zu erkennen und das Wirken des Herrn in ihren Seelen wahrzunehmen. Ein Herz, das Gott zuliebe auf seine Unversehrtheit achtet, hat sich völlig in der Hand und ist fähig sich ganz hinzugeben.

So gesehen wird das Herz zu einem Symbol eines großen anthropologischen Reichtums: es ist die Mitte der Person, der Ort, an dem die innersten und edelsten Fähigkeiten des Menschen übereinstimmen, und wo der Mensch die Energien für sein Handeln bezieht. Es ist eine Kraftquelle, die erzogen – das heißt gepflegt, gezügelt, geläutert – werden muss, damit seine ganze Kraft in die richtige Richtung gelenkt wird. Um so zu erziehen, um mit dieser Kraft lieben und das Lieben lehren zu können, muss jeder aus seinem eigenen Leben alles das ausmerzen, was das Leben Christi in uns beeinträchtigt: der starke Hang zur Bequemlichkeit, die Versuchungen des Egoismus, die Neigung, uns selbst ins Licht zu stellen. Nur wenn wir in uns dieses Leben Christi nachbilden, werden wir es an die anderen weitergeben können ix. Entspricht man der Gnade und führt man einen persönlichen Kampf, dann wird die Seele vergöttlicht und das Herz nach und nach großzügiger. Es wird fähig, seine besten Kräfte einzusetzen, um edle und große Dinge zu errreichen, um das zu erfüllen, was man als den Willen Gottes erkennt.

Manchmal wird der alte Mensch versuchen, seine verlorenen Rechte zurückzuholen; aber die Reife des Gemüts – eine Reife, die zum Teil vom Alter unabhängig ist – bewirkt, dass der Mensch über seine Leidenschaften hinwegsehen kann, um festzustellen, dass er sie ausgelöst hat und wie er darauf eingehen soll. Und er wird immer mit dem Beistand rechnen, den der Herr und seine Mutter ihm anbieten. Lass’ es dir zur Gewohnheit werden, dein armes Herz dem liebevollen und unbefleckten Herzen Mariens anzuvertrauen, damit sie es von allen Schlacken reinigt und dich zum Heiligsten Herzen Jesu hinführt, das voll Erbarmen ist x.

J.M. Martín, J. Verdiá

iEz 11, 19-20.

ii Lk 6, 45.

iii Vgl. Mk 7, 20-23.

iv Vgl. Mk 5, 40-43; 14, 32ff; 11, 15-17.

v Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1770.

vi Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 158.

vii Vgl. Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 795.

viii Hl. Josefmaria, Zusammenkunft in La Lloma (Valencia), 7.1.1975. In P. Rodríguez (ed.), Camino. Edición crítico-histórica, Rialp, Madrid 2004, S. 384; vgl. Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 188.

ix Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 158.

x Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 830.